Face-to-Face -Interview mit Christoph Badelt
Was kommt wirtschaftlich auf Österreich zu? Wo greifen Strukturänderungen bereits? Wo braucht es noch mehr Mut zu Reformen? WIFO-Chef Christoph Badelt im großen TPA Face-to-Face-Interview über die aktuellen Pläne der Regierung, Bildung als zentralen Standortfaktor und Bedrohungen für die europäische Idee.
Österreichs Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit ist zuletzt gesunken. Wird sich der Positivtrend fortsetzen – wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?
Aktuell haben wir noch Hochkonjunktur, auch wenn sie langsam abflacht. Nach unseren Prognosen wird sich der Positivtrend bis ins nächste Jahr hinein fortsetzen, allerdings nicht dramatisch. Wir rechnen damit, dass wir 2020 eine Senkung der Arbeitslosenquote auf 7,2% erreichen, aber die Zahl von 300.000 Arbeitslosen werden wir nicht unterschreiten, zu der ja auch noch die AMS-Schulungsteilnehmer dazugezählt werden müssen. Wir bleiben also auf einem sehr hohen Stand an Arbeitslosigkeit. Das ist sowohl ein ökonomisches als auch ein soziales Problem.
Unternehmen klagen über Fachkräftemangel und hohe Belastungen, etwa durch Lohnnebenkosten. Setzt die Regierung hier die richtigen Gegenmaßnahmen?
Das eine hat mit dem anderen nur indirekt zu tun. Der aktuelle Fachkräftemangel ist zum Teil ein Konjunkturphänomen, aber auch ein strukturelles Problem. Das zeigt sich etwa daran, dass wir viele Arbeitslose haben, die nicht die richtige Qualifikation für den Bedarf der Wirtschaft haben. Für die Betriebe ist es in einigen Bereichen sehr schwer, qualifizierte Fachkräfte zu bekommen – nicht nur in Österreich, auch im angrenzenden Ausland. Ich sehe aber nicht, dass die Unternehmen derzeit über steigende Belastungen klagen. Es gab ja schon Senkungen bei den Lohnnebenkosten, zumindest in kleinerem Ausmaß. Und eine weitere steuerliche Entlastung wurde in Aussicht gestellt.
Flexibilisierung der Arbeitszeit oder Zusammenlegung der Krankenkassen: die Regierung setzte deutliche Akzente. Aus Ihrer Sicht politische Kosmetik oder mehr?
Mit der Arbeitszeitflexibilisierung ist man einen notwendigen Schritt gegangen, der schon unter der alten Regierung fast ausverhandelt war, aber nicht umgesetzt wurde. Hier hatte Österreich einen Standortnachteil und es war gut, den zu beseitigen. Die Zusammenlegung der Krankenversicherungen ist eine Organisationsreform, die sich ökonomisch zunächst nicht sehr stark auswirken wird. Kurzfristig kann es sogar zu Mehrkosten kommen, später wird sie aber Einsparungen bringen. Insgesamt sind das zwei Beispiele, wo die Regierung sich über etwas drüber traut, was bisher nicht gemacht wurde. Es sind Anfänge für notwendige Strukturreformen, die überfällig sind.
In welchen Bereichen müsste man am dringendsten ansetzen?
Jedenfalls bei der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern und den Doppelkompetenzen, die eine Quelle für Ineffizienzen sind. Das gilt im Gesundheitsbereich ebenso wie etwa im Bildungswesen. Öffentliche Verwaltungen neigen dazu, immer weitere Aufgaben zu übernehmen. Man könnte aber auch Zuständigkeiten, die vielleicht 30 Jahre lang notwendig waren, wieder abschaffen. Diese Aufgabenreform auf Bundesebene ist mühsam, man kommt aber nicht darum herum, wenn man nicht ständig mehr ausgeben will.
Ist das Wirtschaftswachstum der einzige zentrale Indikator, um den Wohlstand einer Gesellschaft zu kennzeichnen?
Das Wirtschaftswachstum ist nur ein sehr verkürzter Maßstab für Wohlstand. Das zeigt sich etwa an aktuellen Umweltoder Sozialproblemen. Es gibt einen ganzen Forschungsstrang, der sich damit auseinandersetzt, wie man Wohlstand breiter messen kann als nur durch das Wachstum des Bruttoinlandproduktes. Sowohl auf weltweiter als auch auf europäischer Ebene gibt es Zielkataloge, die bewusst darüber hinausgehen: etwa die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen oder das Programm „Europa 2020“ der Europäischen Kommission. Im Alltag der europäischen Wirtschaftspolitik dominieren aber viel öfter die traditionell ökonomischen Ziele. Die intellektuelle Einsicht ist also weiter als die politische Umsetzung.
„In Pflege und Umweltschutz muss zweifellos mehr investiert werden.“
Welche Aspekte muss nachhaltiges Wachstum umfassen?
Wenn man in Richtung Nachhaltigkeit denkt, sollte man nicht das Wirtschaftswachstum per se als Ziel erklären, sondern sollte es mit Inhalten füllen. Entscheidend ist: Mit welchen Gütern und Dienstleistungen wollen wir in Zukunft wachsen? In Bereiche wie Pflege und Umweltschutz muss zweifellos mehr investiert werden. Wenn Wachstum aus diesen Bereichen heraus erfolgt, wird niemand etwas dagegen haben.
Sie waren lange Jahre Rektor der Wirtschaftsuniversität Wien. Wie kann es gelingen, mehr junge Menschen – vor allem aus bildungsferneren Schichten – auf qualifizierte Ausbildungswege zu bringen?
Genau das ist das Problem. Wir haben zu viele junge Menschen, denen es an elementarer Bildung fehlt, an den Grundfähigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen. Besonders Schulen mit einem hohen Anteil an sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern zeigen hier sehr schlechte Ergebnisse. Dem kann man nur dadurch begegnen, dass man Kinder möglichst früh an Bildung heranführt und in gute Kindergärten und -krippen gibt. Kinder sollten auch nicht deshalb eine schlechtere Bildung bekommen, weil sie nicht ausreichend Deutsch können.
In der Praxis heißt das, es muss investiert werden, damit Lernen in kleineren Gruppen möglich ist und Begabungen gefördert werden können. Wenn man hier nicht handelt, bahnen sich im Hinblick auf die gesellschaftlichen und technischen Veränderungen dramatische Entwicklungen an.
Glauben Sie, dass die Schere zwischen gut und schlecht Gebildeten noch weiter aufgehen könnte?
Wenn man nichts dagegen tut: Ja. Neue Lehrberufe zu schaffen, ist das Eine. Wenn aber Kinder und Jugendliche nicht einmal elementarste Grundkenntnisse haben, braucht man über eine Lehre gar nicht erst zu reden. Klar ist: Für die Digitalisierungswellen, die auf uns zukommen, braucht es Menschen, die fähig sind, sich auf die neuen Anforderungen des Arbeitsmarktes einzustellen. Das macht sowohl Investitionen an der Basis des Bildungssystems dringend notwendig, als auch an der Spitze, bei den Universitäten und Forschungseinrichtungen. Wir brauchen Spitzenleistungen in der Forschung und müssen sie auch fördern, etwa mit Exzellenzprogrammen. Denn Investitionen ins Humankapital zählen zu den wichtigsten Standortfaktoren.
Warum ist Bildung so wichtig im gesamt- gesellschaftlichen Kontext?
Es wäre fatal, Bildung nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu sehen. Bildung ist der Schlüssel für ein erfülltes Leben und für soziale Integration, sie verhindert Benachteiligungen etwa im Rechts- oder Gesundheitssystem bis hin zur Lebenserwartung. Bildung ist aber auch die Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Wir leben in einer Zeit, in der populistische Strömungen offen mit Lügen oder maßlosen Übertreibungen agieren. Dagegen gibt es nur ein Mittel: die Menschen zu bilden, damit sie ein kritisches Bewusstsein entwickeln.
TPA feiert heuer 40-jähriges Jubiläum. Welche Highlights prägten aus Ihrer Sicht die letzten vier Jahrzehnte – wirtschaftlich bzw. gesellschaftlich?
Dazu zählt sicher die Entwicklung Europas, auch wenn da jetzt wieder einiges zu wackeln beginnt. Europa als Friedens- und Demokratieidee hat uns speziell in den letzten 40 Jahren entscheidend geprägt und bringt mittlerweile schon die zweite Generation von jungen Menschen hervor, die mit völliger Selbstverständlichkeit reisen und soziale Kontakte im Ausland pflegen – das ist sehr positiv und wichtig. Ein zweiter Aspekt ist, dass wir bereits seit den 1950er Jahren eine Periode des Wohlstands und des Friedens erleben, die es in der Geschichte noch selten gegeben hat. Das gilt es zu bewahren und nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen.
„Vor zehn Jahren hätte ich unbefangener in die Zukunft geblickt.“
Wie könnte die Wirtschafts- und Arbeitswelt in 40 Jahren aussehen? Megatrends wie die Digitalisierung sorgen ja für gravierende Umwälzungen.
Wir glauben, dass die Digitalisierung keine Bedrohung für den Arbeitsmarkt ist, sondern Umstrukturierungen bringt. Man muss sich also nicht zu Tode fürchten. Echte Sorgen bereiten mir dagegen etwa populistische Strömungen, die in sozialen Spaltungen und im Abbau von demokratischen Grundrechten münden können. Entwicklungen als Folge eines extremen nationalen Egoismus haben historisch immer in kriegerischen Auseinandersetzungen geendet. Auch internationale Pulverfässer – etwa in manchen Entwicklungsländern – oder die gegenwärtig seltsame Politik der USA haben Bedrohungspotenzial in sich. Beim Thema Klimawandel ist auch offen, ob wir es in den Griff bekommen. Natürlich lebt die Hoffnung, dass die Menschen die Wichtigkeit von ökologischen Themen oder von Entwicklungsprogrammen für ärmere Erdteile erkennen. Aber hätten Sie mir diese Frage vor zehn Jahren gestellt, hätte ich jedenfalls unbefangener in die Zukunft geblickt.
Kann die zu Jahresbeginn angekündigte Steuerreform zu einer echten Systemreform in Österreich führen?
Ich wünsche mir eine stärkere Systemreform als angekündigt. Was bisher bekannt ist, hat den Charakter einer Tarifreform, sowohl auf Ebene der Einkommen-, als auch der Körperschaftsteuer. Auch der Familienbonus ist letztlich ein neuer Absetzbetrag. Ich denke, es braucht eine Abgabenreform, die auch die Sozialversicherung umfasst. Insgesamt muss die Steuerbelastung weiter sinken, in erster Linie beim Faktor Arbeit. Wichtig wäre auch eine stärkere ökologische Orientierung des Abgabensystems mit entsprechenden Lenkungseffekten.
Was die Abgaben betrifft, begrüßen wir es, wenn die Regierung ankündigt, die Krankenversicherungsbeiträge für Niedrigverdiener zu senken oder abzuschaffen. Aber klar ist, dass das fehlende Geld für die Krankenversicherung dann über das Budget aufgebracht werden muss. Diese noch stärkere Steuerfinanzierung der sozialen Sicherheit ist heiß umstritten, wird aber derzeit nicht offen diskutiert.
Sind wir bei der Ökologisierung des Steuersystems auf dem richtigen Weg?
Auch hier gibt es kleine Schritte in die richtige Richtung. Künftige weitere Maßnahmen wären definitiv mit mehr Widerstand verbunden. Etwa bei klassischen Steuerbegünstigungen, die ökologisch widersinnig sind, wie der günstigere Dieselpreis oder das KFZ-Pauschale. Diese Themen muss man angehen, aber wohlwollend dosiert. Man kann nicht eine zusätzliche Energiesteuer einführen und die Folgen für die Papier- oder Stahlindustrie außer Acht lassen. Das wäre naiv. Es gilt also, immer auch soziale und standortpolitische Aspekte mitzudenken. Was die Regierung jetzt plant, ist aus meiner Sicht gut, aber sie geht Konflikten derzeit noch aus dem Weg.
Zur Person: O.Univ. Prof. Dr. Christoph Badelt leitet seit September 2016 das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) mit Sitz in Wien. Von 2008 bis 2016 war er bereits dessen Vizepräsident. In den Jahren 2002 bis 2015 fungierte er als Rektor der Wirtschaftsuniversität Wien und war ab 2005 auch vier Jahre lang Präsident der Österreichischen Universitätenkonferenz. |
Das Interview wurde im TPA Journal veröffentlicht.